Reprint des Monats

November /Dezember 2010
Arbeiter- und Bauernopfer
Eine alternative Geschichte Gesamtdeutschlands in sieben Kapiteln (1999)

Von Dirjana Wassermann

Aus dem Amerikanischen von Gundolf S. Freyermuth


In ihrem »Brief aus Berlin, Hauptstadt der GDR«, den das US-Magazin
The New Yorker im Mai 2000 zum zehnten Geburtstag der Gesamtdeutschen Republik veröffentlichen wird, berichtet Dirjana Waterman aus dem Reich des ökologischen Sozialismus: Mit dem befremdeten Blick einer Ausländerin beobachtet sie die Dreharbeiten zu dem DEFA-Jubelfilm Wiedergeburt einer Nation nach einem Versepos des Literaturnobelpreisträgers Botho Strauß. Staatspräsidentin Petra Poppe gewährt ihr ein Exklusiv-Interview. Und als erste amerikanische Journalistin darf sie Helmut Kohl, den letzten Kanzler der ehemaligen BRD, an seinem Verbannungsort in Wandlitz besuchen.

»Apokalypse in Hamburg«, murmelte neben mir Professor Keller, Generaldirektor der DEFA-Studios bei Berlin, als das Licht in dem großen Vorführraum abrupt anging. In der Stimme des ältlichen Mannes lag eine seltsam melancholische Befriedigung. Kaum hörbar fügte er hinzu: »Sehr frei nach Bosch und Goya, dafür entschieden klassen- und umweltbewusster. Eben typisch Kurt Müller.«

»Tja«, sagte der dürre, fast kahlköpfige Mann, der Kurt Müller hieß. Er hatte den Text zu den Bildern gesprochen. Jetzt stand er auf: »Das waren die Muster vom Außendreh. Was meint ihr, Genossen?«

Seit dem vierstündigen Monumentalwerk
Sausauber, einer Hymne auf den real ökonomischen Alltag, galt der einundvierzigjährige Ex-Dissident und Mitbegründer des »Neuen Forums« als großer Hoffnungsträger des GDR-Kinos. In der Neuen Zeit, seit 1991 vereinigt mit der alten, stand über ihn zu lesen, er sei »das einzige Genie unserer verseuchten Generation«. Und die einflussreiche überregionale Berliner Allgemeine Zeitung rühmte Müller als »machtvollen Kinopoeten, einen unermüdlichen Recycler menschlicher Werte, der im massenkulturellen Müll seinesgleichen nicht findet«.

In dem Vorführraum saßen an diesem Nachmittag im September 1999 zwei Dutzend von Müllers Mitarbeitern und vier, fünf DEFA-Regiekollegen, darunter auch Werner Herzog und Volker Schlöndorff. Ihre Gesichter lächelten zurückhaltend ...


Erstveröffentlichung in: KURSBUCH 122, Dezember 1995, S. 147-170.


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